Jahressymposium 2021 – Rückblick : « Jungs im Fokus: Wie motivieren wir sie für ihre Gesundheit ? »
08 Dez. 2021
Unser Symposium fand am 04.11.2021 im Hotel Ador in Bern statt. Pandemiegerecht nahm der grössere Teil der Interessierten online an unserem Symposium teil.
Im ersten Vortrag präsentierte Yusuke Takeuchi wie wir mit Jungs das Gespräch über Sexualität angehen können. Die männlichen Jugendlichen haben nämlich sehr wohl Fragen, aber sie getrauen sich oft nicht, diese zu stellen, weil sie sich genieren oder weil sie schon gar nicht einen Grund für einen Arztbesuch haben. Somit sollten wir alle sich bietenden Gelegenheiten nutzen und gewisse Themen proaktiv ansprechen. Dazu gehört auch die Geschlechtsidentität, die Erwartungen und Zweifel in Bezug auf eine Beziehung und auf Sex. Dabei sollen auch konkrete Elemente beispielsweise der Sexualfunktionen proaktiv angesprochen werden. Ganz wichtig ist auch die Verhütung und das Kondom zu thematisieren. Yusuke Takeuchi konnte zusammen mit Paulin Jaccoud in mehreren lebendigen Rollenspielen sehr eindrücklich zeigen, wie wir solche Gespräche gestalten können.
Bernhard Stier sprach im Anschluss daran über die Geschlechtsspezifität in der Gesundheitsprävention. Die Gesundheitsversorgung für Mädchen hat sich in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise verbessert. Es ist jetzt wichtig im Bereich der Gesundheitsversorgung auch auf die Jungen zu achten.
In engagierter Art und Weise beschrieb Bernhard Stier jungenmedizinische Erkrankungen, die psychischen Auffälligkeiten bei Jungs, die sich anders und viel weniger erkennbar präsentieren, und das jungentypische Experimentier- und Risikoverhalten. So ist das online-Gamen bei Jungs viel verbreiteter. Weiter beschrieb Herr Stier die unterschiedlichen Vorstellungen von Sex bei Mädchen und Jungen. Er wies auch darauf hin, dass die Gewaltopfererfahrungen von Männern und Jungen im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs weniger repräsentiert sind. Auch die Schule hat sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt auf die Mädchen ausgerichtet, was auf die durchschnittlichen Schulleistungen der Jungs einen Einfluss hat.
Was die Jungs brauchen ist, dass wir die Sichtweise umdrehen: definieren und wertschätzen wir «Jungenpower» mit Teamfähigkeit, Konkurrenzfähigkeit, Risikobereitschaft, Kreativität, Neugier und Lebendigkeit. Es braucht mehr genderfokussierte Konzepte, für Jungen geeignete Betreuungs-strukturen und im Bereich der Medizin einen fokussierten Blick auf die Jungengesundheit.
Im nächsten Beitrag kamen 3 Vertreter*innen des Studierendenvereins «Achtung Liebe» zu uns. Das sind Studierende der Universitäten Bern, Basel und Zürich, die sich im Rahmen dieser Freiwilligenarbeit für eine ganzheitliche Sexualaufklärung einsetzen. Sie können von Schulen gebucht werden. Sie erzählten, wie sie ihre Aufklärung in den Schulklassen umsetzen und insbesondere, wie sie in den nach Geschlechtern aufgetrennten Gruppen mit männlichen Jugendlichen sprechen. Anhand konkreter Fragen aus diesen «Jungs-Gruppen» beschrieben sie, wie sie offen und auf Augenhöhe auf die gestellten Fragen eingehen und den Jungen die Unsicherheiten nehmen. Neben dem Beantworten der Fragen versuchen sie auch emotionale und soziale Aspekte einzubringen.
Ein wichtiger Punkt, der sowohl in der Sexualaufklärung in der Schule als auch beim Gespräch über Sexualität in der medizinischen Konsultation zentral ist, stellt die Reflexion der Fachperson dar. Diese muss nämlich am besten selbst spüren, ob sie/ er sich wohl dabei fühlt, über die Themen der Sexualität zu sprechen. Das ist entscheidend und wichtiger als das Alter oder das Geschlecht der Fachperson. Weiter müssen wir uns fragen, wie wir das Interesse von Jungs an sexueller Gesundheit abfangen und ob wir auch Raum für Fragen bieten.
Diese erfrischenden Diskussionen mit den Studentinnen und Studenten führten uns zu einer wohlverdienten Kaffeepause.
Nach der Pause sprach Prof. P. Roman zum Thema: Das Unbehagen in der Sexualität der Jugendlichen – Gewalt und Gewaltprävention.
Die Pubertät überfällt insbesondere die männlichen Jugendlichen mit der erwachenden Sexualität. In diesem noch sehr jungen Alter, und manchmal noch früher, kommen schon die meisten Jugendlichen mit der Pornographie in Kontakt (30-100% vor dem Alter von 12 Jahren). Weiter berichtete er, dass bis zu 27% der Jungen sexuelle Gewalt erfahren (bereits in einem Durchschnittsalter von 9 Jahren).
Häufig ist die Gewalt mit Sexualität verbunden. Die sexuelle Gewalt erstreckt sich von Angriffen über Vergewaltigungen bis hin zum Herunterladen von Kinderpornographie.
Um etwas gegen diese sexuelle Gewalt zu unternehmen, müssen wir das Unbehagen der Jugendlichen aufnehmen und begleiten und damit versuchen die Entstehung der Gewalt zu verhindern. Dazu ist eine weit ausgebaute Sexualaufklärung wichtig. Und es müssten noch mehr psychologische und soziale Fachkräfte ausgebildet werden.
Anschliessend sprach Oliver Bilke-Hentsch über «spätmoderne Entwicklungslinien zwischen Geschlechtsrolle und Psychopathologie – der junge Mann und seine Themen».
Unsere Jugendlichen wachsen aktuell in einer digitalen Medienwelt auf. Wir müssen uns über die Chancen und Risiken dieser neuartigen Welt bewusst werden. Es zeigen sich fast unendlich viele Chancen, von der Unterhaltung, über die Bildungsressourcen, über soziale Kontaktmöglichkeiten bis zur Beratung in verschiedensten Bereichen. Parallel dazu zeigt sich aber auch ein riesiges Feld von Risiken, von schädlichen, falschen und illegalen Inhalten, über Ausbeutung persönlicher Informationen, von Cyberbullying bis zu Anleitungen zu selbstverletzendem Verhalten.
Im Jugendalter lauern verschiedene Suchtformen, neben Nikotin, Cannabis und Alkohol auch Medien und Internet. Verschiedene Süchte können dann in ein aggressives Verhalten bis hinein in die Delinquenz führen.
Im Bereich der Hirnentwicklung während der Adoleszenz fällt besonders auf, dass die Ausreifung des präfrontalen Kortex und des limbischen Belohnungssystems nicht schön parallel und koordiniert erfolgt, sondern, dass es eine zeitliche Verzögerung der Entwicklung des präfrontalen Kortex gibt, respektive einen Gap gibt, der als Risikophase bezeichnet werden kann.
Alle Jugendlichen haben in dieser schwierigen Zeit der Adoleszenz verschiedenste Entwicklungsaufgaben zu erfüllen. Dazu gehören unter anderem das Akzeptieren des eigenen Körpers, das Finden der sexuellen Identität, die Ablösung von den Eltern und das Aufbauen von Beziehungen zu Gleichaltrigen. Gleichzeitig soll man einen Beruf finden und erlernen und sich ein eigenes Wertesystem aufbauen, das ein sozial verantwortungsvolles Handeln ermöglichen soll. Diese schwierigen Aufgaben, die alle Adoleszenten zu lösen haben, sollten zu etwas mehr Verständnis führen.
Ich selbst wollte anhand von meinen eigenen, 10-jährigen Erfahrungen in meiner Jugendpraxis und mit meinen Praxiszahlen dem interessierten Publikum die zwei folgenden Fragen beantworten: «1. Kann man Jugendmedizin in einer Praxis überhaupt praktizieren?» und «2. Ist – Jungs im Fokus /Male Health – in der Jugendpraxis umsetzbar?»
Ich konnte in den vergangenen 10 Jahren den Anteil Konsultationen von Jugendlichen (Alter >/=12 Jahren) von 16% auf 50% steigern. Somit kann die 1. Frage mit «ja» beantwortet werden. Dazu beigetragen hat sicher, dass wir eine gut laufende, allgemeine Pädiatriepraxis betreuen, in der initial die Jugendmedizin von der Pädiatrie quersubventioniert wurde. Dann ist wichtig, das Interesse an der Jugendmedizin zu signalisieren, die Anliegen der jugendlichen Patienten ernst zu nehmen und auf Augenhöhe mit ihnen zu kommunizieren. Eine gute Erreichbarkeit und Abendsprechstunden sind weitere wichtige Details. Ebenfalls ist es hilfreich die Schuluntersuchungen, insbesondere in der Oberstufe, selbst durchführen zu können.
Bezüglich der 2.Frage sehe ich wiederum, die häufig durchgeführten 8. Klasse-Schuluntersuchungen, als entscheidende Unterstützung. Das dort dazu gehörende Einzelgespräch, über diverse Jugendthemen, wie körperliche Entwicklung, Freizeitgestaltung, Medien, Substanzen, Ernährung und Bewegung und wie auch die Sexualität, erachte ich als enorm wichtig. Da ordne ich mich thematisch genau zu Yusuke Takeuchi. Wir müssen auch das Thema der Sexualität offen ansprechen (als ersten Schritt). So kann das Thema einmal lanciert werden. Im Verlauf kommen nun in der «Male Health-Sprechstunde» neben vielen allgemeinmedizinischen Problemen, neben Schulproblemen, psychischen Problemen, ADHS, Impffragen und neben Essstörungen auch verschiedene Fragen zu den männlichen Geschlechtsorganen und zur Sexualität, der Verhütung und dem Kondom. Somit kann ich, etwas stolz, die 2. Frage auch mit «ja» beantworten.
An diesem SGGA-Symposium haben wir die Jungs in den Fokus genommen. Es war ein sehr gelungener Anlass, mit hochinteressanten, spannenden und sehr eindrücklichen Vorträgen. Ich möchte an dieser Stelle nochmals, im Namen des gesamten Vorstandes, allen Referenten herzlich für Ihre Beiträge danken.
Iso Hutter