Den unspezifischen Essstörungen auf der Spur
30 Okt. 2021
Die 10. Ausgabe des International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10), welche aktuell zur Diagnosestellung psychischer Erkrankungen dient, differenziert im Bereich der Essstörungen lediglich zwischen der Anorexia nervosa (AN), der Bulimia nervosa (BN) sowie Misch- und atypischen Formen. Essstörungsbilder, die nicht den gängigen Diagnosekriterien entsprechen, werden heute unter Residualdiagnosen wie „unspezifische Essstörung“ erfasst. Das im Januar 2022 erscheinende ICD-11 wird diesbezüglich voraussichtlich wichtige Änderungen beinhalten, unter anderem die Diagnose der klinisch häufig vorkommenden vermeidend-restriktiven Essstörung (Englisch: Avoidant Restrictive Food Intake Disorder; kurz ARFID) (Claudino et al 2019). Die Diagnose ARFID wurde mit der neusten Version des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-V) bereits eingeführt und sensibilisiert für eine problemspezifischere Behandlung.
Wann sprechen wir von ARFID?
ARFID präsentiert sich analog zur AN als eine durch Vermeidung und Einschränkung der bedarfsdeckenden Nahrungsaufnahme gekennzeichnete Essstörung. Die Diagnosekriterien nach DSM-V umfassen:
- einen erheblichen Gewichtsverlust und/oder (bei Kindern) eine fehlende altersentsprechende Gewichtszunahme oder Körperwachstum
- einen signifikanten Nährstoffmangel; mit möglicher Abhängigkeit von enteraler Ernährung oder Nahrungsergänzungsmitteln
- eine deutlich beeinträchtigte psychosoziale Funktionsfähigkeit (bspw. bei Familienmahlzeiten)
- keine verzerrte Wahrnehmung des Körpergewichts oder der Körperform
Es präsentiert sich folglich ein auf den ersten Blick typisches Bild einer restriktiven Essstörung mit auffälligem Essverhalten, geprägt durch Verhaltensweisen wie Verweigern und Verhandeln. In der somatischen Präsentation finden sich meist unspezifische gastrointestinale Symptome (Bauchschmerzen, Völlegefühl, Reflux, usw.) sowie eine für Untergewicht typische Symptomatik (Verstopfung, Schwindel, Amenorrhoe bei Mädchen, usw.). Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Intelligenzminderungen weisen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko auf. Häufig lässt sich in der Anamnese bereits ein prämorbid selektives Essverhalten feststellen, welches sich in der Form von ARFID zuspitzt. Die Studienlange zur Prävalenz von ARFID erscheint bisher spärlich; in einer Schweizer Studie wurde bei Primarschülern/-innen im Alter von 8 bis 13 Jahren eine Punktprävalenz von 3.2% erfasst (Kurz et al 2015). Die von ARFID betroffene Population scheint jung und mehrheitlich männlich zu sein (Norris, Spettigue & Katzman 2016).
Abgrenzung zur AN
Im Unterschied zur AN geben von ARFID betroffene Kinder und Jugendliche keine gewichtsspezifischen Ängste und keine Verzerrung der Körperwahrnehmung an. Bei ARFID verursachen andere Schwierigkeiten das vermeidend-restriktive Essverhalten: die Angst vor schädlichen Folgen der Nahrungsaufnahme (bspw. Übelkeit, Bauchschmerzen, Kontaminierung), ein Interessensverlust am Essen und/oder eine Aversion gegen nicht vertraute Lebensmittel oder gewisse sensorische Eigenschaften der Lebensmittel. Beim Verhandeln am Esstisch geht es dementsprechend nicht um das Austauschen hochkalorischer gegen niedrigkalorische Lebensmittel. Es lässt sich eine hohe Komorbiditätsrate mit Angst- und Zwangsstörungen feststellen, wobei ARFID ungeachtet der inhaltlichen Überschneidungen mit anderen psychiatrischen Diagnosen das Kriterium der ungünstigen Auswirkungen auf die körperliche Entwicklung bzw. den Gesundheitszustand beinhaltet (bspw. bei einem Kind mit einem Reinlichkeitszwang, dessen Angst vor Verunreinigung die Nahrungsaufnahme so stark beeinträchtigt, dass es zur deutlichen Gewichtsabnahme und Mangelerscheinungen kommt).
Procedere in der klinischen Praxis
Eine gründliche Anamnese mit Explorieren der zugrundeliegenden Ängste, welche ein klinisch auffälliges Essverhalten bei Kindern und Jugendlichen verursachen, ist wegweisend für das Stellen der korrekten Diagnose und für den Aufbau einer Behandlungsallianz mit den jungen Patienten/-innen und deren Familien. Wird ARFID aufgrund des klinischen Bildes fälschlicherweise als AN verkannt, kann dies dazu führen, dass sich betroffene Kinder und Jugendliche unverstanden fühlen („… aber ich habe doch gar keine Angst vor dem Zunehmen!“), sich in Folge nicht auf die psychiatrische Behandlung einlassen und/oder nicht von ihr profitieren.